Leseprobe
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1966
Darnley, 21. Juli 1966
Ihr Handgelenk schmerzte dort, wo die kleinen Finger sie gepackt hatten. Doch der flehentliche Griff hatte bald schon nachgelassen. Nun war der Schmerz alles, was von Emily zurückgeblieben war.
Das Wasser hob und senkte sich unter der kleinen Nussschale, die John als Boot bezeichnete. Der Wind wehte von Westen her und ließ die Wasseroberfläche brodeln. Als sie das Ruder in die finsteren Tiefen tauchte, meinte sie für einen kurzen Augenblick, Emilys Körper damit ertasten zu können. Als würde sie den zierlichen Leib mit ihrem hölzernen Komplizen noch weiter hinabstoßen. Doch das war ein Irrtum. Ein Trugschluss, den ihre Fantasie ihr auferlegt hatte.
Waren das etwa Schuldgefühle, die sie bei dieser Vorstellung empfand?
Sicher hatte sie eine große Schuld auf sich geladen. Doch seit wann ging ihr so etwas nahe?
Sie richtete ihren Blick aufs Ufer, das in der abendlichen Stille vor ihr lag. Sie konnte es gar nicht erwarten, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Sie konnte diesen See nicht ausstehen. Konnte das Wasser, das sich um sie herum ausbreitete wie ein gigantisches Ballkleid, nicht ertragen.
Sie nahm kaum wahr, wie der Wind ihr das seidig lange Haar ins Gesicht peitschte. Ihr Blick war starr auf das trockene Moos am Ufer gerichtet. Die Rettung aus diesem nassen Grab.
In einer der Tannen, die den großen See umsäumten wie ein hoher grüner Kragen, schrie eine Eule.
Ein Warnruf? Oder vielleicht ein Klagelied.
Als das Boot endlich auf der matschigen roten Erde strandete, füllten sich ihre Lungen zum ersten Mal seit Langem wieder mit Luft. Zumindest kam es ihr so vor, als hätte sie die letzten Minuten nicht geatmet. Sie legte das Tau um den Holzpfeiler, der aus dem moorigen Untergrund ragte, und zog einen festen Knoten. Dann stakste sie aus dem morschen Kahn. Er hatte sie noch einmal sicher ans Ufer gebracht. Nun würde sie ihn nie wieder betreten.
Der See tobte im Wind. Er war wütend, dass er sie an diesem Abend nicht in seine regensatten Finger bekommen hatte.
Dabei sollte er sich lieber dankbar zeigen. Sie hatte ihm Emily geschenkt.
Als sie mit nackten Füßen über das Moos schritt, bemerkte sie, dass der Saum ihres Kleides nass geworden war. Es war ein weißes Kleid. Weiß wie die Unschuld.
Angesichts dieser Ironie hätte sie beinahe laut losgelacht.
Das Schilf raschelte, als sie an ihm vorüberschritt. Als würde es gehässig kichern.
Sie richtete ihren Blick noch ein letztes Mal auf den hungrigen See. Der Himmel darüber war in einen dichten Wolkenmantel gekleidet, sodass kein Stern sich im Wasser spiegelte. Dunkel und gespenstisch lag er da und gab noch immer klagende Laute von sich. Der See hatte noch nicht genug.
»Auf Wiedersehen, Emily.«
Der Wind trug ihre Worte auf sanften Flügeln in die anbrechende Nacht hinaus, wo sie sich schon bald verloren. Übrig blieb nur dieser eine Gedanke, der sich in ihrem Kopf wie ein Mantra immer wieder abspulte.
»Wenn ich sie nicht haben kann, soll sie keiner haben.«
1996
London, 16. Mai 1996 ~ Lyra
Lyra saß auf einem Stuhl neben dem Inspizientenpult und genoss die kurze Auszeit, bevor ihre Arbeit als Regieassistentin sie wieder voll in Beschlag nehmen würde.
Lyra, warum sind die Statisten noch nicht da? Lyra, hast du meinen Hut gesehen? Lyra, können wir später noch mal die Applausordnung durchgehen? Lyra, kriege ich noch eine Freikarte für heute? Lyra, kannst du Bill ausrichten, dass wir den großen, blutigen Hammer doch schon im zweiten Akt brauchen?
Ja, als Regieassistentin war sie nicht nur die Gehilfin des Regisseurs, sondern Mädchen für alles. Und jeder, der irgendein Problem hatte – so klein es auch sein mochte – kam auf direktem Weg zu ihr. Das war kräftezehrend und es gab kaum einen Abend, an welchem Lyra nicht hundemüde in ihr Bett fiel und direkt einschlief. Dennoch liebte sie ihren Job am Londoner Royal Opera House. Sie liebte den Geruch, der sie jeden Morgen in Empfang nahm, wenn sie ihren trauten Arbeitsplatz betrat. Es roch nach einer wohligen Mischung aus altem Haus, Kosmetikprodukten und den unterschiedlichsten Menschen. Sie liebte die Aufregung, wenn sie mit einem neuen Stück begannen. Lyra konnte sich stundenlang in einem Manuskript verlieren. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Stück bereits vor sich, wie es aussehen würde, wenn sie es inszenieren dürfte. Noch war sie nicht so weit, aber das würde noch kommen. Sie liebte die Proben und den Umgang mit den Darstellerinnen und Darstellern. Sie spielte gern ihre gute Fee, auch wenn es manchmal anstrengend war. Sie liebte das Gefühl, hinter der Bühne auf- und abzuwuseln, in ständiger Bewegung zu sein. Sie fühlte sich hier heimisch. Manchmal würde sie sich am liebsten im Backstagebereich auf den schmutzigen Boden betten oder an einen Garderobenständer ketten und für immer dortbleiben. Und sie liebte es, dass ihr Freund und Lebenspartner Lloyd ihre Leidenschaft für das Theater allzu gut nachvollziehen konnte. Auch er hatte seine Berufung am Royal Opera House gefunden. Anders als Lyra gehörte Lloyd jedoch nicht zu den Menschen hinter der Bühne, die ihre ganze Energie in das Gelingen einer Produktion steckten, sondern zu jenen, die das Endprodukt aller Bemühungen und langen Arbeitstage auf der Bühne präsentierten. Er war Darsteller. Sänger, um genau zu sein. Und ein verdammt guter noch dazu. An diesem Abend würde er den Gabriel von Eisenstein aus Die Fledermaus zum Besten geben. Und Lyra wusste, dass er wie immer erstklassig sein würde. Sie hingegen würde während der Vorstellung genau hier, am Rande des Geschehens, stehen und die Früchte ihrer gemeinsamen Arbeit in vollen Zügen genießen.
»Lyra?«
»Ja!« Erschrocken fuhr Lyra von ihrem Stuhl hoch. Ihre wohlverdiente Auszeit hatte ein abruptes Ende gefunden. Sie blickte in die haselnussbraunen Augen von Mathilde, einer der Auszubildenden in der Maske. Nervös fummelte das Mädchen an dem Bleistift herum, der aus seiner Hochsteckfrisur ragte wie ein Strohhalm aus einem Schokoladenmilchshake.
»Was ist denn?«, erkundigte sich Lyra.
»Es ist mir etwas unangenehm, dir Umstände bereiten zu müssen«, druckste das Mädchen, »aber Joline ist eben erst aufgetaucht – also, dreißig Minuten zu spät. Wir haben sie jetzt erst mal in ihre Kabine geschickt, damit sie sich für den ersten Akt umkleiden kann ...«
»Mathilde, was willst du mir sagen?«, hakte Lyra nach. Wenn Joline, die Darstellerin der Adele, mal wieder den ganzen Zeitplan durcheinanderbrachte, hatten sie keine Zeit für lange Erklärungen. Der Vorhang würde sich in anderthalb Stunden öffnen. Und bis dahin mussten alle Darstellerinnen und Darsteller in ihren Kostümen stecken, geschminkt und frisiert, um das mit Herzblut erschaffene Bühnenbild mit Leben zu füllen.
»Na ja, jedenfalls hat Lilly mich geschickt, um dich zu bitten, Lloyd zu sagen, dass er doch jetzt direkt in die Maske kommen soll, während Joline sich umzieht. Könntest du das wohl machen?«
»Na klar, ich mache mich sofort auf den Weg und schicke ihn zu euch hoch«, sagte Lyra und tätschelte der jungen Auszubildenden im Vorübergehen die Schulter. Sie mochte das Mädchen, aber es würde sich einen harten Panzer zulegen müssen, um im Theater nicht vor die Hunde zu gehen. Lyra hatte das selbst durchgemacht, als sie nach ihrem Studium der Theaterwissenschaft an einem kleinen Theater in Soho ihren ersten Job angetreten hatte. Aber das Royal Opera House war noch mal eine ganz andere Nummer.
Zum Glück hatte sie Lloyd gehabt, der ihr geholfen hatte, sich einzufügen. Er war drei Jahre vor ihr an das renommierte Opernhaus gekommen und hatte in dieser Zeit seinen festen Platz in der großen Theaterfamilie gefunden. An ihrem ersten Arbeitstag am Royal hatte Lyra ihn abends in der Cafeteria gesehen. Sie erinnerte sich noch genau an das flatternde Gefühl, das sein Anblick in ihr auslöste. Dieses hing nicht nur
mit seinem guten Aussehen zusammen – den malerisch geschwungenen Lippen, den dunkel glänzenden Augen, die beinahe dieselbe Farbe hatten wie sein schwarzes, unordentliches Haar und dem wohlgebauten Körper –, sondern mit seinem gesamten Auftreten. Lloyd gehörte zu der Sorte Mensch, an denen man sich niemals sattsehen konnte. Denen man zuhören musste, ganz gleich, welche Wörter aus ihren Mündern kamen. An diesem Abend in der Cafeteria wurde auch Lyras Blick wie auf magische Weise von ihm angezogen.
Er saß umringt von einigen anderen Darstellern an einem langen Tisch. Und doch wirkte er präsenter als die anderen. Der Geräuschpegel in der vollen Cafeteria war so hoch, dass Lyra seinen Worten nicht folgen konnte. Aber für diesen Augenblick genügte es ihr, ihn einfach nur anzusehen. Bis er auf einmal seinen Kopf zu ihr drehte und sie mit seinen alles verschlingenden Augen ansah.
»Lyra, komm doch zu uns«, sagte er und winkte ihr einladend zu.
Lyra fragte sich, woher er ihren Namen kannte. Immerhin war es ihr erster Tag an dem neuen Opernhaus und sie war ihm bisher ganz sicher nicht vorgestellt worden. Nein, daran hätte sie sich erinnert.
Wie selbstverständlich gab Lloyds Sitznachbar seinen Platz auf, um ihn Lyra zu überlassen.
»Du bist die neue Regieassistenz, nicht wahr?«, fragte er freundlich.
Aber Lyra nickte nur halbherzig, während ihr Blick weiterhin auf Lloyd ruhte.
Und auch sonst hatte sie an diesen Abend kaum andere Erinnerungen, als dass sie ihn angesehen und seinen Worten gelauscht hatte. Durch seine Wärme und Offenheit fühlte sie sich im Royal Opera House aufgenommen. Ein wahrer Segen nach dem Job in ihrem letzten Theater, den sie nicht gut verwunden hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlaubte sie sich, zu hoffen, dass sie endlich zu einer großen Theaterfamilie gehören würde.
Dennoch dauerte es ganze sechs Monate, bis Lyra sich traute, Lloyd zu fragen, ob sie nicht mal gemeinsam ausgehen wollten. Bis dahin waren sie sich nur im schützenden Kokon des Theaters begegnet und hatten kaum Zeit ungestört zu zweit verbracht. Lyra spürte ihr Herz vom Hals bis in die Zehen hinab klopfen, als sie ihn nach einer Vorstellung um ein Treffen bat.
Es war einer dieser seltenen Mutmomente, die man am Schopf packen und ausnutzen musste, ehe sie verstrichen.
Ihr Mut machte sich bezahlt. Mit einem charmanten schiefen Grinsen sah Lloyd sie an, schlang seine Arme um ihre Taille und wirbelte sie mit einer Leichtigkeit durch die Luft, als wöge sie nicht mehr als ein Kleinkind. Lyra musste sich zusammenreißen, um vor Schreck nicht aufzuschreien. Doch als Lloyd sie wieder absetzte, sagte er schlicht und einfach: »Natürlich werde ich mit dir ausgehen. Hast du morgen Abend schon was vor?«
Zu Lyras Freude blieb es nicht bei einer Verabredung. Und natürlich sahen sie sich regelmäßig im Theater. Anfangs wusste Lyra nicht so recht, wie sie sich am Arbeitsplatz ihm gegenüber verhalten sollte. Sie war sich nicht sicher, wie Lloyd es fände, wenn ihre Kolleginnen und Kollegen von ihren Dates erführen. Aber diese Sorgen schob sie nach kurzer Zeit beiseite. Denn als ein Techniker Lloyd einmal fragte, mit wem er denn zur Premierenfeier von Rigoletto gehen wollte, antwortete Lloyd nonchalant: »Mit meiner Freundin natürlich, mit wem denn sonst?« Er zog sie liebevoll zu sich heran und küsste sie vor versammelter Truppe.
Seit diesem Tag waren Lyra und Lloyd ein Paar. Die Regieassistentin und der Opernsänger. Damit hatten sie innerhalb ihrer Theaterfamilie für reichlich Gesprächsstoff gesorgt. Insbesondere als Lyra beim fünfzigsten Geburtstag eines Kollegen zu viel Kuchen gegessen hatte und ihr Bauch kugelig rund geworden war. Aber in ihrer frisch verliebten Phase ließen die beiden das ganze Gerede an sich vorbeiziehen. Sie lebten nur füreinander und für den Augenblick.
Es dauerte nicht lange, da bat Lloyd Lyra darum, bei ihm einzuziehen. Und wenige Tage später zog Lyra aus der kleinen Dachwohnung im Haus ihrer Oma Millie aus und brachte all ihre Sachen in Lloyds schickes Apartment.
Zwei Jahre lebten sie jetzt schon zusammen. Da war es nicht überraschend, dass Lilly, Joline und die anderen Frauen am Royal Lyra ständig mit der Frage löcherten, wann er ihr denn endlich mal die Frage stellen würde. Doch noch war Lyras Ringfinger so nackt wie bei ihrer Geburt. Aber vielleicht würde sie irgendwann ja wieder einen dieser kostbaren Mutmomente haben und selbst die Initiative ergreifen.
»Lyra, Gott sei Dank!«
Die tiefe Stimme riss Lyra aus ihren Gedanken. Als sie Halt machte und sich mitten im Gang umdrehte, stand sie ihrem Chef gegenüber. Robert Potter war ein großer, schrankartiger Mann mit einem breiten Gesicht.
»Was ist denn los?«, fragte Lyra.
»Hast du Joline gesehen? Ich habe schon das ganze Haus nach unserer Lieblingsdiva abgesucht.«
»Keine Sorge«, sagte Lyra und legte dem kräftigen Mann eine Hand auf den Oberarm. »Mathilde hat mir mitgeteilt, dass sie sie zum Umziehen geschickt haben. Ich bin gerade auf dem Weg zu Lloyd, um ihm zu sagen, dass er früher in die Maske muss. Auf diese Weise stehen beide pünktlich auf der Bühne, sobald der Vorhang aufgeht.«
»Na dann ist ja gut«, sagte Robert und stieß so viel Luft und Erleichterung aus, dass man damit einen ganzen Heißluftballon hätte füllen können. »Dann geh du mal schnell zu deinem Mr Darcey. Ich bin auf der Hinterbühne, wenn du mich brauchst.«
»Alles klar«, sagte Lyra und hechtete weiter den langen Flur entlang, der zu den Einzelkabinen der Solisten führte.
Vor einer Tür, neben der ein Schild mit der Aufschrift Lloyd A. Dempsey prangte, machte sie Halt. Sie richtete notdürftig ihre Frisur. Lloyd erinnerte sie immer wieder daran, wie sehr er ihre Locken mochte und für ihre Farbe schwärmte, die er einmal als geröstete Haselnuss beschrieben hatte. Ein Lächeln stahl sich auf Lyras Gesicht. Nur Lloyd konnte so eine schöne Beschreibung für ihre krausen Haare finden. Für Lyra waren sie immer nur eine komische Mischung aus Dunkelblond und Braun gewesen.
Sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Schließlich wollte sie Lloyds Kabine nicht hechelnd wie eine alte Dampflok betreten. Dann kündigte sie sich mit einem kurzen Klopfen an und drückte die Türklinke nach unten.
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